Besuch in einem ungarischen Flüchtlingslager
Viele Berichte haben wir alle gesehen und gehört über die Situation der Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze. Doch es mit eigenen Augen zu sehen, ist noch erschütternder als man es sich vorstellen kann.
Der Himmel ist grau, die Temperaturen herbstlich. Gestern hat es geregnet in Röszke. Jetzt liegen Menschen im Matsch und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Eltern mit ihren Kindern, die teilweise zu Fuß aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak in Richtung Europa gegangen sind, um überleben zu können. Doch gibt es hier nicht viel, was ihnen Hoffnung macht. Es gibt keine staatliche Hilfe, nur einige Privatpersonen kümmern sich, so gut es geht, um die Flüchtlinge.
Zu denen gehören auch Ibrahim Bani und die Unterstützer seiner Gruppe „The Active Support“, die ich an die Grenze zu Serbien begleiten durfte. Ibrahim hat privat Spenden gesammelt und ist mit zwei gemieteten Transportern voller Hilfsgüter von Stuttgart aus nach Ungarn gefahren, um zu helfen. Decken, Schlafsäcke, warme Kleidung und einige Zelte bringen wir mit. Doch schon bei unserer Ankunft wird klar, wo die Probleme liegen. Die Sachen werden dringend gebraucht, aber gesteuert wird die Hilfe nicht. Die ungarischen Behörden sind nur durch einige wenige Polizisten vertreten. Strukturen oder eine Organisation gibt es nicht. Lediglich die ehrenamtlichen Helfer aus Österreich und Deutschland versuchen, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen – die Essensausgabe zu regeln, die gespendete Kleidung zu sortieren und Zelte aufzubauen für jene, die hier übernachten müssen. Wir helfen, wo es geht. Als wir durch die Menschenmenge gehen, erleben wir schier Unfassbares. Ein Mann bricht weinend zusammen, als ich ihm einen Müsliriegel gebe. Menschen sitzen auf dem Boden zwischen haufenweise Müll und Kleidung, die sie dringend brauchen könnten, aber durch den Regen und Matsch nicht mehr unbenutzbar sind. Die freiwilligen Helfer versuchen auch die medizinische Versorgung zu stemmen, aber es fehlt an allem. Als der Abend anbricht sehe ich eine Mutter mit ihrem Kind knöcheltief im Schlamm stehen. Der Junge zittert und hat schon blaue Lippen. Ich gebe ihm meine Regenjacke, aber sie wärmt auch nicht wirklich. Die Mutter ist verzweifelt und weiß nicht, was sie tun soll. Sie fürchtet um das Leben ihres Kindes, wenn sie die Nacht im Freien verbringen müssen. Also bleibt ihr nur in einen der Busse zu steigen, die im provisorischen Lager bereitstehen und die Menschen in das nächstgrößere Flüchtlingscamp bringen. Dort können sie sich dann als Asylsuchende registrieren lassen. Anschließend versuchen die meisten weiterzukommen, denn in Ungarn bleiben will – wer kann es ihnen verdenken – kaum einer.
Deutschland, Österreich, Schweden, die Niederlande. Das sind die Ziele der meisten, die hier ankommen, aber es wird immer schwieriger. Die ungarische Regierung versperrt den Weg von Serbien mit einem Zaun, Österreich und jetzt auch Deutschland haben ihre Grenzen vorübergehend geschlossen. Das Schengener Abkommen wird Stück für Stück ausgehebelt und anstatt eines Europas ohne Grenzen werden immer mehr nationalstaatliche Lösungen gesucht. Doch geholfen ist damit niemandem. Weder werden die strukturellen Probleme gelöst, die in den Bundesländern und Landkreisen entstehen, noch werden die Flüchtlinge dadurch gleichmäßiger verteilt. Dazu braucht es eine europäische Lösung. Dazu braucht es Deutschland, aber auch Ungarn.
Die EU muss der Regierung Orban deutlich machen, dass es solche Unmenschlichkeiten nicht geben darf. Das Auffanglager bei Röszke ist nur einer von vielen Orten, an denen Menschen Unbeschreibliches ertragen müssen und sich nicht wehren können. Der Sinn und Zweck der Europäischen Union – Freiheit, Friede und Sicherheit – wird hier konterkariert. Die Bilder aus Ungarn stehen symbolisch für das sogenannte Flüchtlingsproblem, bei dem das Problem aber nicht bei den Flüchtlingen liegt, sondern bei den Regierungen der EU-Staaten, die sich teilweise wegducken und auf dem Rücken der Vertriebenen taktieren, anstatt adäquate Lösungen zu liefern. Die Flüchtlingslager an der der ungarisch-serbischen Grenze beweisen es Tag für Tag. Sie sind provokativ und unmenschlich. Sie sind die Schande der europäischen Union.
Einen Lichtblick gibt es aber: die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Bürger Europas. Menschen die Zeit und Geld opfern, tausende Kilometer fahren und unter furchtbarsten Bedingungen Tage und Nächte in Lagern verbringen, um denen zu helfen, die alles verloren haben. Und auch die Helfer hier in Deutschland, die jede freie Sekunde damit zubringen, Spenden zu sammeln und den Flüchtlingen einen würdigen Empfang zu bereiten. Sie alle tragen dazu bei, dass die Situation überhaupt noch zu ertragen ist. Hier zeigen die Bürger etwas, das den Regierungen und staatlichen Institutionen teilweise abhandengekommen scheint. Das einzige was in der aktuellen Debatte wirklich zählt: Menschlichkeit.
Info zum Beitrag:
Der Göppinger Stadtrat und Landtagskandidat der Grünen, Alexander Maier, war als Reporter für den Stuttgarter Radiosender „DIE NEUE 107.7“ in Röszke. Die dabei entstandenen Beiträge werden ab kommenden Montag im Rahmen einer Themenwoche Flüchtlinge bei der 107.7 gesendet.
Info zum Lager:
Der 3.000-Einwohner Ort Röszke liegt etwa 15 Kilometer entfernt von der Universitätsstadt Szeged. Wegen der Nähe zur serbischen Grenze kommen die meisten Flüchtlinge auf der Balkan-Route hier an. Das Lager, in dem Alexander Maier war, ist eines von vielen provisorischen Lagern direkt an der Bahnstrecke, die von Serbien nach Ungarn führt und von zahlreichen Flüchtlingen zu Fuß genutzt wird.

